Handel im Wandel

Trends, Chancen und Herausforderungen

Brigitte Réthier, Bereichsvorständin Institutional Clients & Transaction Banking Sales bei der Commerzbank, über die zentralen Trends im Welthandel

Veränderungen im Handel strahlen auf Unternehmen, ganze Branchen und Märkte aus

Die letzten Jahre haben gezeigt: Marktverwerfungen werden immer häufiger, unberechenbarer und potenziell auch schwerer. Komplexe Lieferketten werden entflochten und neu aufgestellt. Aus der Notwendigkeit heraus, sich den sich bietenden Herausforderungen und langfristigen Veränderungen anzupassen, werden sie zugleich immer robuster und widerstandsfähiger. Der Handel ist die Hauptschlagader der Weltwirtschaft: Veränderungen im Handel strahlen auf Unternehmen, ganze Branchen und Märkte aus.

Mehr als ein Viertel der EU-Exporte und ein Fünftel der EU-Importe entfallen auf Deutschland – ein unangefochtenes Schwergewicht im europäischen Handel. Die Commerzbank wickelt etwa ein Drittel des deutschen Außenhandels ab und ist eine erfahrene sowie kompetente Ansprechpartnerin für die Handelsfinanzierung, aber auch für die Themen, die den Wandel antreiben: etwa die Nachhaltigkeitswende und die Digitalisierung. Damit sind wir in der einzigartigen Lage, die jüngsten Trends im globalen Handel aus nächster Nähe beobachten zu können – zum Nutzen unserer Kunden.

Für mich gibt es im Welthandel drei Haupttrends, auf die ich hier näher eingehe.

Energiesicherheit und -diversifizierung – Hoffnungsträger grüner Wasserstoff

Viele Veränderungen, die sich aktuell im globalen Handel abspielen, sind Reaktionen auf die weltweite Nachhaltigkeitswende. Vorangetrieben wird insbesondere ein Umdenken bei der Beschaffung von Rohstoffen und Energie, denn viele Staaten versuchen, ihre lange währende Abhängigkeit von Öl und Gas nach und nach auf null zu reduzieren.

Der Ukraine-Konflikt verstärkt die Dynamik hin zu grüneren Energiequellen und hat viele europäische Staaten gezwungen, über ihre Energiequellen nachzudenken und Energiesicherheit und -diversifizierung – einschließlich erneuerbarer Energien – ganz oben auf die Agenda zu setzen.

Eine Option ist grüner Wasserstoff. Große Investitionen, darunter Leuchtturmprojekte von Energieriesen wie BP, finanziert von großen Volkswirtschaften wie den USA und China, lassen den Markt für die gefragte Technologie rasant wachsen. Schätzungen zufolge wird das Marktvolumen bis 2050 auf 850 Milliarden US-Dollar zulegen.

Nordafrika steigt derzeit zum weltgrößten Produzenten für grünen Wasserstoff auf. Ganze unbewohnte Landstriche werden für Solaranlagen genutzt und bestehende Pipelines umfunktioniert. Durch ihre Nähe ist die Region für Europa ein logischer Energiegarant. Europäische Staaten investieren dort aktiv in die erneuerbare Energieerzeugung. Jüngst unterzeichneten die Niederlande und Marokko ein Finanzierungsabkommen, um in Marokko die Infrastruktur für grünen Wasserstoff auszubauen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen und der Geschäftsmöglichkeiten, die hieraus entstehen, eröffnet die Commerzbank aktuell eine Repräsentanz in Marokko.

Im weiteren Jahresverlauf ist darüber hinaus eine Repräsentanz in Jordanien geplant. So können wir aufstrebende, aber auch aktuell herausfordernde Märkte im Nahen Osten besser beobachten und Chancen für unsere Kunden nutzen.

Nearshoring und engere Kooperationen für sichere Lieferkette

Der Ukraine-Konflikt hat nicht nur eine Wende in der Energiebeschaffung ausgelöst, er hat auch (nach der Pandemie) einmal mehr die Fragilität komplexer Lieferketten und die Notwendigkeit zur Diversifizierung verdeutlicht. Wie sich gezeigt hat, können geopolitische Spannungen weitreichende Konsequenzen für die komplexen internationalen Lieferketten haben, wie wir sie heute kennen. Ein Paradebeispiel war der Kabelbaum-Engpass, der die Automobilindustrie in Bedrängnis brachte. Hersteller und Zulieferer mussten gemeinsam nach Alternativen suchen, woraufhin Produktionskapazitäten nach Nordafrika verlagert wurden. Jenseits der direkten Auswirkungen auf die ukrainischen Exporte sind aber auch, wie in diesem Fall, Überlandrouten zwischen Asien und Europa mittelbar gestört.

Auch wenn die Kosten ein wesentlicher Faktor bei der Warenbeschaffung bleiben werden, arbeiten Unternehmen daran, potenzielle Instabilitäten in den Lieferketten zu minimieren. Durch den Trend zum Nearshoring, bei dem die Produktion oder zumindest gewisse Arbeitsschritte ins nähere Umfeld verlagert werden, verschieben sich die Handelskorridore. So entscheidet sich ein Hersteller in den USA möglicherweise für Produktionsstandorte im Nachbarland Mexiko. Mit steigendem ökonomischen Druck und zunehmender Fragmentierung der Märkte werden kürzere Handelswege in den kommenden Jahren an Beliebtheit gewinnen.

Neben dem Nearshoring erkennen wir auch den Trend, bestehende Allianzen mit zuverlässigen Handelspartnern und geopolitischen Verbündeten zu vertiefen. Zum Beispiel wird der zum Volkswagen-Konzern gehörende Batteriehersteller PowerCo seine erste Gigafactory in Übersee in Kanada eröffnen. Vor zehn Jahren wäre die Produktion vielleicht in China angesiedelt worden, aber angesichts wachsender politischer Spannungen mit der Supermacht stehen weitere Globalisierungsschritte auf dem Prüfstand. Kanada ist für Volkswagen ein stabiler und zuverlässiger Handelspartner, der selbst über Rohstoffe verfügt, darunter auch Metalle der Seltenen Erden, die in der Batterieproduktion unverzichtbar sind.

Sicherlich werden Handelskorridore zwischen Nordamerika und Europa immer wichtiger. So haben die USA und Großbritannien im Juni dieses Jahres eine „Atlantic Declaration“ verabschiedet, die die Kooperation beider Länder vertiefen soll. Zugleich verhandeln EU und USA über ihre eigene transatlantische Handelsallianz. Lassen sich Differenzen über das Verhältnis zu China, Handelszölle und Emissionsziele zwischen Washington und Brüssel ausräumen, könnte am Ende der Verhandlungen das erste Freihandelsabkommen seiner Art zwischen den beiden Wirtschaftsräumen entstehen – oder zumindest etwas, das dem sehr nahekommt. Für Deutschland sind die USA schon jetzt mit knapp 9 Prozent der 2021 getätigten Exporte der größte Exportmarkt. Und es gibt Potenzial für weiteres Wachstum: 74 Prozent der deutschen Unternehmen, die in den USA bereits Standorte haben, wollen ihre Tätigkeiten dort ausbauen (AmCham Germany: Transatlantic Business Barometer 2023).

Eine Neuaufstellung der Lieferketten kann nur über ein starkes weltweites Netzwerk erreicht werden. Um funktionierende Partnerschaften aufzubauen, werden Unternehmen das Sektorwissen und die Marktexpertise ihrer Bankpartner benötigen.

Lösungswege: Kooperation und Digitalisierung

Bei der Aufzählung der neuesten Handelstrends darf die Digitalisierung nicht fehlen. Künstliche Intelligenz (KI), programmierbare Schnittstellen (APIs), die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) und andere innovative Technologien haben das Zeug, viele Schwierigkeiten zu überwinden, denen der globale Handel gegenübersteht.

Kooperationen mit Fintechs bieten für Banken eine Reihe von Chancen, insbesondere bei der Entwicklung neuer Kundenservices und -lösungen. Die Commerzbank investiert aktiv in den Fintech-Sektor, um ihr Netzwerk zu erweitern und Innovationen anzutreiben. Ein weiterer wichtiger Baustein ist unsere Kooperation mit T-Systems: Gemeinsam verfolgen wir das Ziel, voll automatisierte Lieferketten mit integrierten Finanzdienstleistungen zu ermöglichen. Das Pilotprojekt wird aktuell unter anderem mit dem Logistikunternehmen Nagel-Group durchgeführt; Anfang nächsten Jahres soll die Lösung marktreif sein. Auf Basis von IoT-Sensorik (Internet of Things), 5G-Campus-Netzen, KI, Cloud- und Blockchain-Technologien werden mit ihr ereignisbasierte, automatisierte Zahlungen möglich, um die Effizienz und Transparenz von Lieferketten zu erhöhen. Auf dem Weg der Waren entlang der Lieferkette lösen smarte Verträge Zahlungen aus. Unser Ziel: weitere integrierte Services für Unternehmen automatisiert abzuwickeln, beispielsweise die Supply-Chain-Finanzierung.

Die Commerzbank ist fest davon überzeugt, dass Handelsfinanzierungen in Zukunft digitaler und somit wesentlich effizienter werden. Das passiert aber sicher nicht von heute auf morgen. Unter Einbindung von Regulierern, Banken, Unternehmen und IT-Anbietern müssen zunächst lang etablierte Altprozesse Stück für Stück überholt und ein realistischer Rechtsrahmen sowie internationale Standards geschaffen werden.

Politische und regulatorische Initiativen haben bereits Impulse gesetzt. Großbritannien ist kürzlich mit der Erlaubnis elektronischer Konnossements für bestimmte Transaktionen einen Schritt in die richtige Richtung gegangen. Daneben gibt es die G20-Initiative zur Verbesserung des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs, mit deren Hilfe Transaktionen schneller, günstiger und transparenter werden sollen. Auch wenn das Vorhaben lange auf sich warten ließ und seine Umsetzung noch mehrere Jahre dauern wird: Letztlich wird es den internationalen Handel und das Wirtschaftswachstum ankurbeln.

Für die Zukunft gilt es, eines zu beachten: Die genannten Entwicklungen und Herausforderungen sind nicht lokal oder regional begrenzt – sie haben weltweite Auswirkungen. Um wirksam zu sein, müssen Lösungen daher global ausgelegt sein und in Zusammenarbeit entstehen. Fortschritte lassen sich bei der Digitalisierung und Nachhaltigkeitswende nur erzielen, wenn alle Stakeholder an einem Strang ziehen.