Internationaler Handel und Investitionen, Lateinamerika an einem Wendepunkt: Handelschancen in Zeiten globaler Fragmentierung
Die globalen Handelsrouten verändern sich rasch. In diesem Umfeld können die lateinamerikanischen Volkswirtschaften ihre günstige strategische Positionierung zum eigenen Vorteil nutzen.
Pedro Rebelo, Head of Financial Institutions Latin America bei der Commerzbank, und Klaus vom Bauer, Leiter unserer Repräsentanz in São Paulo, sprechen über die makroökonomischen Trends, mit denen Lateinamerika internationale Handelsströme anziehen kann. Gleichzeitig betrachten sie mögliche Hindernisse und die Rolle internationaler Banken bei der Investitionsförderung.
Weltwirtschaft im Umbruch – strategische Vorteile für Lateinamerika
Globale Handelsallianzen formieren sich neu und traditionelle Handelsrouten verändern sich schneller als je zuvor. Im Zuge des immer dynamischeren Welthandels wird Nearshoring als Strategie im Lieferkettenmanagement zunehmend beliebter. So haben viele Unternehmen ihre operative Ausrichtung infolge der durch die Covid-Pandemie und die Sanktionen gegen Russland verursachten Lieferkettenschocks in den letzten Jahren angepasst und Einkauf und Fertigung wieder näher an den Heimatmarkt herangerückt. Lateinamerika ist dank der Nähe zum weltgrößten Verbrauchermarkt in den USA diesbezüglich gut positioniert.
In ähnlicher Weise profitiert die Region davon, dass sie überwiegend als politisch neutral wahrgenommen wird und somit ein idealer Kandidat für Friendshoring ist, also dem Eingehen von Geschäftsbeziehungen zu Ländern mit gemeinsamen politischen Werten oder Rechtssystemen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf den geopolitischen Wettbewerb zwischen den USA und China: Beide sind wichtige Partner für die Region.
Die Mercosur-Region – ein aktiver Player im Welthandel mit wichtigen (ausstehenden) Deals
Die Staaten des Mercado Común del Sur („Mercosur“), zu denen u.a. Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gehören, bauen ihre Rolle im Welthandel aus. Ein Beispiel dafür – und ein echter Meilenstein – ist das Assoziierungsabkommen mit der EU vom Dezember 2024: Es handelt sich um das umfangreichste jemals von der EU eingegangene Abkommen und um die einzige Vereinbarung des Mercosur mit einem anderen großen Handelsblock. Mit einem gemeinsamen Markt von fast 800 Millionen Bürgerinnen und Bürgern werden in dieser neuen, umfassenden Freihandelszone Zölle auf 90 % der bilateralen Handelsströme wegfallen. Hiervon werden sowohl die Märkte für Commodities (Bodenschätze und landwirtschaftliche Produkte) als auch einige Fertigerzeugnisse profitieren.
Südamerika verfügt über Wettbewerbsvorteile bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, zu denen die europäischen Märkte nun besseren Zugang erhalten. So werden die Wirtschaftsströme zwischen den beiden Regionen bei Produkten wie Rindfleisch, Schweinefleisch, Geflügel und Sojabohnen gestärkt. Insbesondere Brasilien und Argentinien werden zudem von der Abschaffung der Zölle auf Obst, Säfte, Tee und Kaffee profitieren. Gleichermaßen erhalten die südamerikanischen Märkte besseren Zugang zu gefragten Exporten aus der EU. Beispiele hierfür sind Kraftfahrzeuge und -teile, Maschinen, Chemikalien und Textilien.
Einige Stimmen befürchten, dass lokale Branchen unter einem stärkeren Wettbewerb durch EU-Produzenten leiden werden und dass die von der EU auferlegten Umwelt- und Nachhaltigkeitsstandards Mercosur-Hersteller unverhältnismäßig benachteiligen könnten. Doch das Ganze ist kein Nullsummenspiel: Stärkere Handelsströme zwischen den beiden Blöcken könnten Mercosur-Unternehmen auch ermutigen, Modernisierung und Digitalisierung voranzutreiben, um ihre Effizienz zu steigern und so wettbewerbsfähig zu bleiben.
Des Weiteren liegen auch vielversprechende Deals zwischen den Mercosur-Staaten sowie China und Südkorea auf dem Tisch – gute Aussichten für den Handel mit der Region. Bis sich hieraus echtes Wachstum entwickeln kann, gilt es jedoch noch einige Hindernisse zu überwinden.
Handelsblöcke sind dann erfolgreich, wenn sie als geschlossene Einheit auftreten. Mercosur verfügt jedoch weder über eine übergeordnete Infrastruktur noch über eine gemeinsame politische Geschichte, wie es beispielsweise bei der Europäischen Union der Fall ist. Ohne diese Geschlossenheit könnten einzelne Länder bilaterale Handelsabkommen außerhalb des Handelsblocks eingehen, die die Verhandlungsposition des Mercosur schwächen. So strebt Uruguay beispielsweise eine engere Beziehung mit China an, obwohl auch der Mercosur derzeit ein Handelsabkommen für die gesamte Wirtschaftsgemeinschaft verhandelt.
Aus ökonomischer Sicht hätte eine engere Zusammenarbeit – vor allem zwischen den größten und einflussreichsten Mercosur-Ländern Argentinien und Brasilien – positive Folgen. Doch wie bei allen Großmächten blockieren als ungleich wahrgenommene Verhältnisse und konkurrierende politische Agenden den Weg. Auch der Status Brasiliens als größte Volkswirtschaft der Region hat in der Vergangenheit für Besorgnis unter den Nachbarländern gesorgt.
Ausländischen Investoren geht es letztendlich vor allem um Transparenz. Unterschiedliche Handelsabkommen zwischen lateinamerikanischen Ländern können für Verwirrung sorgen und Investoren fernhalten, während eine bessere Transparenz und Zusammenarbeit innerhalb des Handelsblocks die Attraktivität der Region für Investitionen steigern würde.
Lateinamerika – der ESG-Balanceakt einer ganzen Region
Doch nicht nur die strategisch vorteilhafte Positionierung und die Handelsabkommen der Region ziehen internationale Investoren an. Lateinamerika verfügt auch über hohe Kapazitäten für die Erzeugung erneuerbarer Energien und ist damit ein attraktives Powershoring-Ziel. Hierbei handelt es sich um eine Strategie, nach der Unternehmen Standorte in Ländern errichten, in denen erneuerbare Energie reichlich und zu günstigen Preisen vorhanden ist.
Mit 85 % Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen (allen voran Wasserkraft, aber auch Windkraft, Solarenergie und Wärmekraft aus Biomasse) ist Brasilien ein klarer Vorreiter. Insbesondere im Nordosten des Landes sind bereits Investitionen in Milliardenhöhe angekündigt. Eines der prominentesten Beispiele ist das 1,5 Mrd. US-Dollar schwere Projekt eines norwegischen Unternehmens für die Herstellung von grünem Wasserstoff und grünem Ammoniak in Ceará. Doch auch andere südamerikanische Länder müssen sich nicht verstecken. So macht sich Peru sein (aufgrund der starken Sonneneinstrahlung) hohes Potenzial für Solarenergie erfolgreich zunutze und Chile arbeitet daran, bis spätestens 2030 den weltweit günstigsten grünen Wasserstoff herzustellen.
Auch in Bereichen abseits des Energiesektors nehmen ESG-Kriterien in den wirtschaftlichen Entscheidungen lateinamerikanischer Staaten eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Kolumbien hat beispielsweise ein ehrgeiziges Projekt ins Leben gerufen: Bis 2026 will die Regierung nun rund 750.000 Hektar aufforsten, um bedrohte Ökosysteme wiederherzustellen und dem Klimawandel zu begegnen.
Während die einzelnen Länder unterschiedliche Projekte verfolgen, haben sie alle ein gemeinsames Verständnis dafür, wie wichtig es ist, die Klimakrise zu bekämpfen. Nicht nur haben alle lateinamerikanischen Länder das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet; mit dem Escazú-Abkommen von 2021 hat die Region zusätzlich ihr Bekenntnis zu Umweltgerechtigkeit unter Beweis gestellt.
Diese politischen Nachhaltigkeitsbemühungen müssen jedoch auch mit den unmittelbaren inländischen Prioritäten vereinbar sein. Brasilien, der Vorreiter der Region in Sachen erneuerbare Energien, muss den täglichen Transportbedarf im Land berücksichtigen; viele Menschen verlassen sich für ihre Mobilität oder den Transport ihrer Waren nach wie vor auf fossile Brennstoffe. Und auch die chilenische Wirtschaft ist noch stark von den kaum nachhaltigen Kupferexporten abhängig, wenngleich die Regierung gleichzeitig ehrgeizige Projekte für grünen Wasserstoff vorantreibt und sich zu einer nachhaltigen Wirtschaft bekennt. Während in der Region also Einigkeit über die hohe Relevanz von Umweltthemen herrscht, dürften Fortschritt und Wandel hin zur Nachhaltigkeit unterschiedlich schnell voranschreiten.
Die Handels- und Energieziele Lateinamerikas – wie sich die Infrastrukturlücke schließen lässt
Eine weitere große Herausforderung, der sich Lateinamerika gegenübersieht, ist die Entwicklung der Infrastruktur. Aktuell sind die Infrastrukturkapazitäten der meisten Länder durch die interne Nachfrage ausgelastet. Ohne signifikante Verbesserungen in den Häfen sowie eine Ausweitung des Flugverkehrs, der Schienennetze und Straßen, die allesamt unabdingbar für den Warentransport sind, wird sich das nicht ändern.
Doch nicht nur der Handel erfordert Infrastrukturinvestitionen, auch für die Erzeugung und Verteilung erneuerbarer Energie braucht es Geld. Der Übergang zu grünen Technologien bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum ist ein Drahtseilakt für jedes Land. Das gilt umso mehr mit Blick auf die Herausforderungen im Transportwesen und den Ausbau erneuerbarer Energieprojekte. Daher sind Investitionen in die Infrastruktur so wichtig, denn sie können das produktive Potenzial dieser Länder freisetzen und die Kapazitäten ausweiten, um die Nachfrage im In- und Ausland zu befriedigen.
Die Rolle der Finanzinstitute – Investitionsförderung durch lokale Expertise und globale Netzwerke
Infrastrukturinvestitionen stehen ganz oben auf der Agenda, doch dämpft das weiterhin hohe Zinsniveau die Risikobereitschaft des Marktes. Daher ist es wichtig, Investitionen zu gewinnen.
Finanzinstitute werden hierbei weiter eine wesentliche Rolle spielen, denn sie fördern die für umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen erforderlichen Kapitalströme, indem sie grenzüberschreitende Transaktionen ermöglichen, Risiken mindern und beim Umgang mit komplexer Regulatorik helfen. Internationale Banken bringen als Vermittler Produzenten, Infrastrukturanbieter und Regierungen zusammen und lassen dabei ihre umfangreichen regionalen und globalen Beziehungen spielen, um große Infrastrukturprojekte umzusetzen.
Auf kurze Sicht stellen Korrespondenzbanknetzwerke Finanzierungen, Garantien und Akkreditive für die laufende Abwicklung des Handels zwischen Lateinamerika und den globalen Märkten bereit. Auf längere Sicht bietet die Finanzierung durch Exportkreditagenturen (ECA) Liquidität für kapitalintensive Projekte, die auch mehrere Jahrzehnte dauern können. Diese Form der Finanzierung ist insbesondere dann wichtig, wenn es nur begrenzte lokale Ressourcen gibt. Vor allem bei Infrastrukturprojekten sind öffentlich-private Partnerschaften (PPP) von zentraler Bedeutung. Hier kann die technische Expertise von Banken eine wichtige Rolle spielen, um die Umsetzung der oft komplexen finanziellen Vereinbarungen zu unterstützen – was insbesondere für die schnell wachsende Branche der erneuerbaren Energien in Lateinamerika relevant ist.
Internationale Banken – der Schlüssel zur Expansion in Lateinamerika
Ganz allgemein brauchen Unternehmen jedoch vor allem zuverlässige und erfahrene Partner, die ihnen bei der Navigation durch die uneinheitlichen rechtlichen, regulatorischen und umweltbezogenen Beschränkungen in der Region helfen. Banken, die ihre lokalen Beziehungen über Jahrzehnte ausgebaut und gepflegt haben, eignen sich bestens für eine solche Partnerschaft.
Nur wenige internationale Banken verfügen dabei über einen so umfassenden Erfahrungsschatz in der Region wie die Commerzbank, denn der Handel mit Lateinamerika ist seit jeher ein wesentlicher Bestandteil unseres Geschäfts. Im Jahr 1870 gaben Kaufleute, die Kaffee aus Brasilien importierten, den Anstoß für die Gründung der Commerzbank, und auch heute noch hat die Bank Repräsentanzen in São Paulo, Buenos Aires und Panama-Stadt.
Dank verschiedener positiver makroökonomischer Effekte kann Lateinamerika in einer Zeit, in der sich langjährige Handelsbeziehungen auflösen bzw. neu formieren, eine wichtigere Rolle in der Weltwirtschaft übernehmen. Diese Entwicklung wird künftig (vielleicht mehr als in anderen Regionen) durch nachhaltigere Energiequellen angetrieben – vorausgesetzt, dass weiterhin passende Finanzierungslösungen gefunden werden. Eins ist dabei klar: Internationale Unternehmen, die sich die vielen Chancen in Lateinamerika zunutze machen wollen, werden geeignete Bankpartner an ihrer Seite benötigen.
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